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urn:nbn:de:0043-rhinodidactics-33-7 Ausgabe 33 vom 1. Juli 2010 (als PDF)

26. Juni 2010

Das Denklehrzimmer

Meinert A. Meyer

Christian Heinrich Wolke: Denklehrzimmer (Leipzig 1805)

Christian Heinrich Wolke: Denklehrzimmer (Leipzig 1805)

Das Denklehrzimmer entstammt einer Veröffentlichung eines Lehrers am Philanthropinum in Dessau, Christian Heinrich Wolke aus Jever in Ostfriesland. Das Buch trägt den umständlichen Titel »Anweisung für Mütter und Kinderlehrer, die es sind oder werden können, zur Mittheilung (sic!) der allerersten Sprachkenntnisse und Begriffe, von der Geburt des Kindes an bis zur Zeit des Lesenlernens« (Leipzig 1805).

Wir können davon ausgehen, dass die Radierung, die dem Buch angehängt war, darstellen soll, wie sich Christian Heinrich Wolke das Lehren und Lernen gedacht hat. Das Entscheidende ist aus seiner Sicht, dass hier das Zimmer das Denken lehrt, wenn man das abkürzend so formulieren darf, während die Frauen, die man auf der Zeichnung sieht, nicht selbst lehren, sondern die Lernumgebung gestalten. Ich brauche die Fülle der Materialien hier nicht zu beschreiben. Ein großer Teil von ihnen könnte auch noch heute in Kindergarten und Grundschule Verwendung finden. Stattdessen beziehe ich mich auf die Vorlesung zur Pädagogik von Immanuel Kant, in der er das Philanthropinum in Dessau, an dem Christian Heinrich Wolke als Lehrer tätig war, einer kritischen Würdigung unterzieht (Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1964, Band VI, S.693--761).

Der führende Vertreter des Philantropismus war Johann Bernhard Basedow, der 1774 in Dessau eine Musterschulanstalt mit dem Titel »Philanthropin« gegründet hat. Die Anstalt wurde schnell berühmt.

Kant äußert sich dazu. Seine Einschätzung dieser Schule gründet letztlich in seinem anthropologischen und historischen Verständnis der Notwendigkeit von Erziehung.

»Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht« (a.a.O. S. 699).

Auf die Schulentwicklung bezogen ist Kant der Ansicht, dass man Experimentalschulen errichten müsse, ehe man Normalschulen errichten könne:

»Man bildet sich zwar insgemein ein, dass Experimente bei der Erziehung nicht nötig wären, und dass man schon aus der Vernunft urteilen könne, ob etwas gut, oder nicht gut sein werde. Man irret hierin aber sehr, und die Erfahrung lehrt, dass sich oft bei unsern Versuchen ganz entgegengesetzte Würkungen zeigen von denen,die man erwartete. Man sieht also, dass, da es auf Experimente ankommt, kein Menschenalter einen völligen Erziehungsplan darstellen kann. Die einzige Experimentalschule, die hier gewissermaßen den Anfang machte, die Bahn zu brechen, war das Dessauische Institut. Man muss ihm diesen Ruhm lassen, ohngeachtet der vielen Fehler, die man ihm zum Vorwürfe machen könnte; Fehler, die sich bei allen Schlüssen, die man aus Versuchen macht, vorfinden, dass nämlich noch immer neue Versuche dazu gehören. Es war in gewisser Weise die einzige Schule, bei der die Lehrer die Freiheit hatten, nach eigenen Methoden und Planen zuarbeiten, und wo sie unter sich, als auch mit allen Gelehrten in Deutschland in Verbindung standen« (Kant a.a.O. S. 768).

Soweit Immanuel Kant in der Vorlesung über Pädagogik, herausgegeben von G. Friedrich Theodor Rink, Königsberg 1803.

»Sein Lob steigernd schreibt Immanuel Kant, der das Institut allerdings nur aus der Ferne beobachten konnte – wir wissen, dass er Königsberg nie verließ – in der Königsberger Zeitung sogar, von Dessau werde eine wahre Revolution des Erziehungswesen ausgehen. Dagegen merkte Johann Gottfried Herder nur verdrossen an, er werde Basedow keine Kälber, geschweige denn Kinder anvertrauen« (Herwig Blankertz, Die Geschichte der Erziehung von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar: Büchse der Pandora 1982, S. 79).

Was war so revolutionär am Philantropinum? Und was ist das Revolutionäre am Denklehrzimmer? Nach meinem Kenntnisstand wird hier zum ersten Mal der Lernprozess nicht als kognitive Belehrung konzipiert, der sich die Schülerinnen und Schüler zu unterziehen haben, vielmehr ist der Lernprozess wesentlich eine Tätigkeit der Lernenden, der Kinder, die selbstbestimmt und erstaunlich frei mit den Materialien umgehen können, die ihnen das Denklehrzimmer zu bieten hat. Modern formuliert: Man sieht hier erstmals ein Konzept für die Selbstregulation des Lernens

Wenn man den Angaben von Wikipedia s.v. »Christian Heinrich Wolke« vertrauen darf, so wurde der Vorschlag nie realisiert de.wikipedia.org/wiki/Christian_Heinrich_Wolke. Der Nachbau eines solchen Zimmers ist aber heute im Rochow-Museum im Schloss Reckahn im brandenburgischen Reckahn zu sehen 141.89.99.185:8080/reckahn/content/e61/e86/index_ger.html. Wolkes Denklehrzimmer kann als 200 Jahre alte Anregung für die heutige Diskussion um Lernwerkstätten gesehen werden.

Warum war Immanuel Kant davon überzeugt, dass man dem Philantropinum in Dessau unbedingt Spielraum für Experimente geben sollte, bevor man für die Normalschulen Lehrpläne und Zielsetzungen festschreibt? Kants Antwort bestand darin, dass noch nicht geklärt ist, wie viel Freiheit für die Zöglinge in den Schulen wünschenswert sei. Er schreibt:

»Eines der größesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich der Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen.Ohne dies ist alles bloßer Mechanism, und der der Erziehung Entlassene weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen. Er muß früh den unvermeidlichen Widerstand der Gesellschaft fühlen, um die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten, zu entbehren, und zu erwerben, um unabhängig zu sein, kennen zu lernen« (Kant a.a.O. S. 711).

Das dialektische Verhältnis des Lehrers zu seinen Schülern lässt sich wohl kaum präziser formulieren. Zielsetzung der Schule muss die Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange sein, dem nun einmal die Lernenden als Lernende ausgesetzt sind.

Es ist interessant, dass Kant dabei durchaus kritisch gegenüber der didaktischen Konzeption des Philanthropinum gewesen ist. Trotzdem hat er das Recht auf Experimente für diese Schule lebhaft verteidigt. Er schreibt:

»Die Schule ist eine zwangmäige Kultur. Es ist äußerst schädlich, wenn man das Kind dazu gewöhnt, alles als Spiel zu betrachten. Es muß Zeit haben, sich zu erholen, aber es muß auch eine Zeit für dasselbe sein, in der es arbeitet. Wenn auch das Kind es nicht gleich einsieht, wozu dieser Zwang nütze: so wird es doch in Zukunft den großen Nutzen davon gewahr werden. Es würde überhaupt nur den Vorwitz der Kinder sehr verwöhnen, wenn man ihre Frage: Wozu ist das? und wozu das? immer beantworten wollte. Zwangmäßig muß die Erziehung sein, aber sklavisch darf sie deshalb nicht sein« (Kant a.a.O. S. 731).

Kann man etwas aus der Pädagogikgeschichte lernen? Ja, man kann es. Die Schule ist ein gesellschaftliches Experiment. Sie bedarf deshalb der Sicherung ihrer Freiräume.

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