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urn:nbn:de:0043-rhinodidactics-33-7 – Ausgabe 33 vom 1. Juli 2010 (als PDF)

25. Juni 2010

Ansprache anlässlich der Amtseinführung als Schulleiter des Galilei-Gymnasiums in Hamm am 1. Februar 2010

Reinhard Lapornik-Jürgens

»Die Menschen stärken – die Sachen klären« – Hartmut von Hentigs kurze Zusammenfassung dessen, was unsere Arbeit in der Schule ausmachen soll, habe ich als Leitgedanken für meine kommende Tätigkeit ausgewählt. Auf den ersten Blick mag diese kurze Sentenz vielleicht banal erscheinen. Passen diese Worte noch in eine Schullandschaft, die sich bisweilen rasant verändert? Sind sie nicht abgehoben und überholt, ja vielleicht sogar naiv?

Ich bin der Meinung, dass dies keineswegs der Fall ist. Ich meine sogar, dass es gerade in den Zeiten bildungspolitischer Umbrüche dringend notwendig ist, dass wir uns immer wieder neu auf die Grundlagen unserer Arbeit besinnen. Nur so können wir einen kurzatmigen Aktionismus vermeiden und trotz der immer wieder neuen Anforderungen, die von außen an die Schule herangetragen werden, auf einer verlässlichen Basis nachhaltig arbeiten. Bei aller Offenheit für notwendige Reformen muss die Schule m.E. im besten Sinne des Wortes konservativ sein, wenn sie sich selbst noch als Bildungseinrichtung verstehen will.

Was kann es bedeuten, wenn wir »die Menschen stärken« wollen?

Auf der Grundlage der These H. v. Hentigs, dass Bildung in erster Linie reflexiv zu verstehen sei, d.h. dass der Mensch sich selbst bilde, sollten wir den lernenden Schüler als Subjekt in den Mittelpunkt stellen. Das bedeutet: nicht die Ansprüche von Bildungspolitikern und Schulaufsichtsbeamten, nicht die Theorien von Schulpädagogen und Soziologen, nicht die Anforderungen der Wirtschaft sollen Ausgangspunkt für unsere Arbeit sein, sondern die jungen Menschen mit ihren je individuellen Entwicklungsständen und -aufgaben, die sich plakativen Standardisierungen entziehen. Bildung im Unterricht und durch Unterricht kann daher nur bedeuten, mit den Schülerinnen und Schülern in einen Dialog einzutreten und Situationen zu arrangieren, die Lernprozesse ermöglichen. Ohne den Dialog und das Selbstdenken wird Bildung zur Abrichtung, zur Verwahrung oder gar zur Indoktrination.

Dieser Dialog muss – zumal am Gymnasium – wissenschaftspropädeutisch fundiert sein. Es gilt, Lern- und Arbeitshaltungen zu entwickeln und auch Anstrengungsbereitschaft einzufordern, die dazu dienen, unser Miteinander in Schule, Staat und Gesellschaft nachhaltig und zukunftsfähig gestalten zu können. Ziel ist es, herauszufinden, wie wir den Schülerinnen und Schülern in ihrem jeweiligen Entwicklungskontext die optimale Unterstützung zur Herausbildung einer emanzipierten und fachkompetenten Persönlichkeit geben können. In diesem Sinne bedeutet Persönlichkeitsförderung der Schülerinnen und Schüler: die Bereitschaft und die Fähigkeit zu wecken, die eigene Biographie kritisch zu reflektieren, damit sie im Bewusstsein ihrer Subjektivität ihre Wahlmöglichkeiten erweitern können, Gelegenheiten zu geben, Empathie zu entwickeln, damit sie ihre kommunkativen und kooperativen Komptenzen erweitern können, einen kritischen und aktiven Umgang mit Wissenschaft zu ermöglichen, damit sie foschend lernen können und verantwortlich handeln lernen unter Berücksichtigung der egenen Mölichkeiten und Grenzen, und die Entwicklung eines Wertebewusstseins anzubahnen, auf dessen Basis sie persönliche Einstellungen in kritische Distanz zu gesellschaftlichen Entwicklungen bringen können, damit sie kurzlebigen Trends nicht unreflektiert und affirmativ folgen.
Wir sollten den Schülerinnen und Schülern mit Offenheit und Respekt begegnen und ihnen Wertschätzung und Vertrauen entgegenbringen. Wenn wir sie stärken wollen, ist es wichtig, bei den vorhandenen Ressourcen anzusetzen.

Wertschätzung sollte im Zentrum jeder pädagogischen Arbeit stehen. Sie beschreibt das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, zwischen den Schülern, zwischen Eltern und Lehrern, zwischen der Schulleitung und den Kollegen, zwischen der Schulaufsichtsbehörde und den Schulen usw. Akzeptanz, Toleranz und Höflichkeit, echtes Interesse und eine Bereitschaft zum offenen Diskurs sollten diese Zusammenarbeit bestimmen. Wenn wir Vertrauen investieren, ermutigen wir die Schülerinnen und Schüler, selbstständig zu arbeiten. Dies sollte durchweg unsere Grundhaltung sein. Auf dieser Basis ist es dann möglich, anspruchsvoll zu arbeiten und hohe Anforderungen zu stellen.

Von Seiten der Eltern wird bisweilen die Befürchtung geäußert, dass die Kinder durch die veränderten Bedingungen, welche die Verkürzung der Schulzeit mit sich bringt, überfordert sein könnten. Die Schülerinnen und Schüler stärken, das heißt auch: ihnen helfen und sie ermutigen. Die Kinder müssen das Vertrauen haben, dass wir gemeinsam auf ihrer Seite stehen. Nicht nur in dieser Hinsicht ist es unabdingbar, eng mit den Eltern zusammenzuarbeiten. Die Erziehung liegt in gemeinsamer Verantwortung von Elternhaus und der Schule. Weder können die Eltern ihre Kinder in der Schule »abgeben«, noch können die Lehrerinnen und Lehrer wichtige erzieherische Entscheidungen ohne eine Rücksprache mit den Eltern treffen. Die Verpflichtung zur aktiven Zusammenarbeit verlangt auch eine Stärkung von Strukturen, die einen kontinuierlichen Austausch fördern. Mit dem gebundenen Ganztag ergeben sich weitere Möglichkeiten, diese Zusammenarbeit zum Wohl der Kinder zu stärken.

Reinhard Lapornik-Jürgens an seinem neuen Arbeitsplatz als Schulleiter des Galilei-Gymnasiums in Hamm

Reinhard Lapornik-Jürgens an seinem neuen Arbeitsplatz als Schulleiter des Galilei-Gymnasiums in Hamm

Jeder Mensch braucht Anerkennung. Dies gilt nicht allein für die Erfolgreichen. Eine Schule, die bei den Schülerinnen und Schülern Anstrengungsbereitschaft wecken will, muss ihnen auch dabei helfen, Selbstvertrauen zu entwickeln und sich auf Neues einzulassen. Manchmal geschieht dies nicht nur im Fachunterricht, sondern in Arbeitsgemeinschaften und anderen außerunterrichtlichen Veranstaltungen, in denen besondere Talente und Fähigkeiten zu Tage treten. Die positiven Rückmeldungen und Bestätigungen, die die Kinder und Jugendlichen dabei bekommen können, stärken ihr Selbstbewusstsein. Dies kann sich wiederum positiv auf den Unterricht auswirken. Daher finde ich es unbedingt wichtig und begrüßenswert, wenn sich die Schülerinnen und Schüler an der Schule auch in anderen Bezügen als im Fachunterricht erproben können, sei es im Sport, sei es im künstlerisch-musischen Bereich. Diese Kultur der Vielfalt kann man im Kontext des gebundenen Ganztags weiter ausbauen.

»Die Sachen klären« – welcher Ort könnte für junge Menschen dafür besser geeignet sein als das Gymnasium? Als ich 1981 als Referendar in den Schuldienst eintrat, hat mich vor allem das breite Fachwissen der Kolleginnen und Kollegen beeindruckt. Es ist schön, in einer Institution zu arbeiten, in der eine so hohe Kompetenz aus den verschiedensten Fachrichtungen versammelt ist. Mit ihrer Hilfe kann bei den Schülerinnen und Schülern eine solide Basis für ein lebenslanges Lernen gelegt werden.

Dabei sollten wir unsere Ansprüche klar herausstellen. Immerhin können die jungen Menschen an unserer Schule den höchsten Schulabschluss erwerben, den dieses Land zu vergeben hat. Insofern legen wir auch die Grundlage für eine zukünftige Kompetenz- und Verantwortungselite, die unser Gemeinwesen voranbringen kann. Nur mit Anstrengungsbereitschaft, Sorgfalt und Disziplin können Schülerinnen und Schüler erfolgreich sein. Dazu gehört es auch, bisweilen »nein« zu sagen zu auf den ersten Blick attraktiveren Konkurrenzangeboten, die allein dem Spaß verpflichtet sind. Lernen ist zunächst einmal Arbeit; Vokabeln, Formeln, Merksätze wollen auch gegen Lustwiderstände angeeignet sein. Erst auf der Basis eines systematisierten Grundwissens können komplexere Fragestellungen in Angriff genommen werden, will man nicht auf einem unerträglich oberflächlichen Niveau über alle möglichen Dinge »schwadronieren«, wie wir dies leider allzu oft in unserer Medienlandschaft beobachten können. »Die Sachen klären« heißt also: sich darauf einlassen, ihnen auf den Grund zu gehen. Dies kann aber kein Selbstzweck sein. Das Wissen und die Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler in der Schule erwerben sollen, können nicht von ihren Lebensbezügen abgekoppelt sein. Hartmut von Hentig meint dazu:

Das Leben und seine Schwierigkeiten, Eitelkeiten und Ängste finden Antworten im Schulcurriculum. Die Person wird gestärkt dadurch, dass sie dies alles ein bisschen besser durchschaut, wenn sie die Sachen geklärt hat. Die Bildung, die Schulbildung, öffnet die Augen und stärkt das Lebensgefühl.

»Die Sachen klären« – dies ist beileibe auch für die Lehrer ein hoher Anspruch. Die Schüler für die Sache interessieren, begeistern, sie »frag-würdig« machen, verschiedene Zugänge suchen und finden lassen, den Wert von Fehlern entdecken lassen und dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler gute Ergebnisse erzielen. Das alles unter den veränderten Bedingungen der verkürzten Schulzeit, der zentralen Prüfungen, der Kompetenzorientierung, unter Berücksichtigung der neuesten Erkenntnisse der Lernforschung und der Gehirnbiologie, natürlich unter Einbeziehung diagnostischer Erhebungen und mit dementsprechend individualisierten Förderkonzepten. Die Ansprüche an die Lehrerinnen und Lehrer sind wahrlich hoch. Ihre Arbeit braucht Unterstützung und Anerkennung. Sie selbst müssen die Bereitschaft aufbringen, sich diesen Aufgaben zu stellen und ihre Erziehungs- und Bildungsarbeit in einem kritischen Diskurs immer wieder neu zu kommunizieren. Dies erfordert eine wache Aufmerksamkeit im Hinblick auf bildungspolitische Entwicklungen und den Mut, eigene Positionen zu beziehen, vor allem aber das Bewusstsein, dass es in der Schule zuvorderst um die Entfaltung der Schüler geht.

»Die Menschen stärken – die Sachen klären«: Dies sind zwei Seiten derselben Medaille. Nur gefestigte Menschen können sich angstfrei und offen den Herausforderungen stellen, die ihnen die Schule und das Leben abverlangen. Sie können dann erfolgreich sein, wenn sie sich sichere fachliche Grundlagen aneignen, Haltungen wie Kooperationsfähigkeit, Anstrengungs- und Verantwortungsbereitschaft entwickeln, bereit sind, ihre eigene Biographie immer wieder neu reflektieren, kurz: wenn sie sich auf Bildungsprozesse einlassen, die ein Leben lang tragen können. Die dafür unabdingbaren Grundlagen können sie in der Schule erwerben.

Meine Damen und Herren, veränderte Verhältnisse brauchen auch veränderte Strukturen, will man ihnen angemessen begegnen. Wenn sich die Schule auf der Grundlage des bisher dargelegten Verständnisses als Bildungsinstitut versteht, bedarf es immer wieder verschiedener Reformanstrengungen, um durch veränderte Arrangements diesem Anspruch gerecht werden zu können. Unsere Schule hat sich entschieden, vom kommenden Schuljahr an in den gebundenen Ganztag einzutreten. Den höheren Anforderungen, die sich durch die Verkürzung der Schulzeit für die Schülerinnen und Schüler ergeben, wollen wir mit optimierten Konzepten begegnen. Dadurch eröffnen sich nicht nur zusätzliche Möglichkeiten der individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler, sondern auch Chancen zur Entlastung der Eltern. Mit diesem Konzept sind neue Aufgaben verbunden, die nur mit einem zusätzlichen räumlichen Angebot zu meistern sind.

Meine Damen und Herren, heute wechselt an unserem Gymnasium die Schulleitung. Das bedeutet nicht, dass ab heute alles anders wird. Unsere Schule ist lebendig und arbeitsfähig; sie hat sich ihren Aufgaben professionell gestellt und eigene, tragfähige Konzepte entwickelt. Hier wird unaufgeregt und beharrlich eine solide Bildungsarbeit geleistet. In dieser Kontinuität werden wir fortfahren, neue Herausforderungen zu bewältigen. Hartmut von Hentigs Kurzdefinition von Bildung mag uns dabei helfen, bei allen durchaus wichtigen Strukturdebatten den Kern unserer Arbeit nicht aus den Augen zu verlieren.

© Redaktion rhino didactics