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Ausgabe 32 vom 1. März 2010 (als PDF):

1. März 2010 – Christian F. Görlich

Fragmentierung und Defragmentierung der Lehrerbildung

Ein programmatischer Beitrag

In dem vorliegenden Text versuche ich, meine Erfahrungen als Ausbilder und Seminarleiter in der so genannten zweiten Phase der Lehrerbildung zunächst einmal metaphorisch zur Sprache zu bringen. Sprachphilosophisch und in der methodischen Schrittigkeit lehne ich mich dabei an Roman Jacobson an (in: Poesie und Sprachstruktur. Zwei Grundsatzerklärungen. Zürich 1970, S. 37). Im Zusammenhang mit seiner Unterscheidung zwischen einer formalen/wissenschaftlichen, tendenziell kontextfreien Sprache und einer Alltagssprache findet sich ein Plädoyer Jakobsons für die kontextabhängige, auch »natürlich« genannte Alltagsprache. »Es ist die Sprache, welche die Metapher und die Metonymie zulässt, es ist die figurative Sprache. Ohne die figurative Sprache gibt es keine Sprachschöpfung: nicht nur keine poetische Sprachschöpfung, sondern auch keine Möglichkeit einer dynamischen Haltung der Sprache gegenüber, kein Sprechen, das uns erlauben würde, neuen Situationen gerecht zu werden. Die natürliche Sprache, die Sprache, welche Metaphern und Metonymien ermöglicht, ist die notwendige Vorbedingung wissenschaftlicher Entdeckungen. – Ohne diese Sprache lassen sich keine neuen Wege erschließen. Sie ist der Motor der Einbildungskraft. Dem ist beizufügen, dass wir nicht in einen rein und strikt intellektuellen, kognitiven Bereich leben. Gewiss braucht man, um wissenschaftliche Ideen zu formulieren – Formeln. Doch es gibt zahlreiche Lebensphänomene, die nach einer gewissen verbalen Mythologie verlangen.«

Mein treibendes Motiv für die Wiederaufnahme des Themas »Lehrerbildung« ist ein Unbehagen, das trotz gegenteiliger politischer und amtlicher Behauptungen – scheinbar durch relativ aktuelle OECD-Berichte gestützt – verblieben ist. Mit Blick auf Bertold Brechts »Der gute Mensch vom Sezuan« und der in diesem Theaterstück gestellten Frage nach den Ursachen des Übels in dieser Welt – individuell moralisch zurechenbar oder systembedingt? – möchte ich mein Unbehagen an der Lehrerbildung, das sich für einzelne Betroffene ja durchaus auch als Leiden manifestieren kann, weniger auf die Akteure als auf die »Fragmentierung« des Systems zurückführen (vgl. Absatz A).
Bekanntlich versprechen »Defragmentierungsprogramme« die als negativ angesehenen Folgen einer zu starken »Fragmentierung« zu lindern, wenn nicht gar zu heilen. Deshalb lautet mein Vorschlag im o.a. explorierenden Sinne von Jakobson , die Bildungsgangdidaktik von Meinert Meyer und seiner Hamburger Schule einmal daraufhin zu befragen, inwieweit diese grundsätzlich diachron/biographisch und an Entwicklungsaufgaben orientierten Überlegungen Ausgangspunkt für ein überzeugenderes Rahmenkonzept für die Lehrerbildung – gleichsam ein Defragmentierungsprogramm – sein könnten (vgl. Absatz B).
Gesellschaftlichen Entwicklungen sind häufig von subkutanen Prozessen abhängig, die sich den Akteuren erst langsam, manchmal erst im Nachhinein ins Bewusstsein bringen. Deshalb möchte ich in einem letzten Absatz (C) die Frage aufwerfen, inwieweit wir uns einem vielleicht epochalen Wechsel der Wissensordnung gegenüber sehen, der uns über die bloße Reparatur des bestehenden Systems durch »Defragmentierungsprogramme« zu einem viel radikaleren Umdenken nötig dürfte.

A. Zur »Fragmentierung« der Lehrerausbildung

»Fragmentierung« ist eine Metapher, die dem Geist einer informatisch geprägten Zeit entspricht. Die Chancen, aber auch die Verengungen, die sich mit einer solchen Metapher und der Vermählung mit dem Zeitgeist verbinden, werden kritisch zu überprüfen sein. In der Sache verweist die Metapher auf einen strukturell seit langem bekannten und diskutierten Sachverhalt: Einer zunehmend komplexer werdenden Welt entspricht eine zunehmende, sozial folgenreiche Arbeitsteilung mit der Notwendigkeit einer kompensierenden Moral oder – wie es bei Emile Durkheim auch heißt – eines entsprechenden Kollektivbewusstseins. Es handelt sich um ein »klassisches« Problem in dem Sinne, dass es als Desiderat oder als Problem über – in diesem Fall – Durkheims Zeit fortlebt, dessen Beschreibung aber heute nach einer neuen Form verlangt – so Niklas Luhmann in der Einleitung zu Emile Durkheims »Über die Teilung der sozialen Arbeit« (1930 – Neuauflage: Frankfurt/M: Suhrkamp 1977, S. 17). Aus meiner Wahrnehmung sind mindestens zwei Umstände kaum bestreitbar, an denen sich diese Fragmentierung fest machen lässt: zum einem, dass es sich bei dem Lehrerberuf um eine hoch komplexe Ansammlung von Anforderungen handelt, zum anderen, dass die Versuche, dieser Komplexität gerecht zu werden, im Verlaufe der Entwicklung zu einer starken Fragmentierung geführt haben, die mit Blick auf die vielleicht nötige und unabweisbare Arbeitsteilung mit der Zeit in eine starke Kontraproduktivität umzuschlagen droht bzw. umgeschlagen ist. Meine Wahrnehmung ist dabei durch die schulpolitischen und schulrechtlichen Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen bestimmt und eingeengt; die Aussagen dürften aber gleichwohl mit gewissen Einschränkungen verallgemeinerungsfähig sein.
Die Fragmentierung lässt sich anhand unterschiedlicher/interdependenter Bereiche festmachen. Da wären zunächst die unterschiedlichen Orte der Lehrerbildung zu nennen: von der Schule selbst, über die Universitäten, über die Seminare in der Zweiten Phase bis zu den Fortbildungen whrend der eigentlichen Berufsausbildung. Angesichts der sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse ist weiter auf eine Binnendifferenzierung in der Lehrerrolle selbst hinzuweisen: ein Lehrer ist nicht nur Unterrichtender und Erzieher, er soll darüber hinaus diagnostizieren, fördern, evaluieren, beurteilen, beraten etc.. ein Lehrer hat es mit den unterschiedlichsten Bezugspersonen zu tun: angefangen beim Hausmeister einer Schule, über das Kollegium und die Schüler selbst bis zu den Eltern und Interessengruppen. Hinzu kommt, dass durch eine kurzatmige Bildungspolitik und eine an Vermarktungsinteressen orientierte Wirtschaft (Schulbuchverlage, Medienindustrien, etc.) immer wieder andere und neue Erwartungen an den Lehrerberuf heran getragen werden.
Ich habe es immer als ein Hauptproblem der Ausdifferenzierung der Ausbildungsorte angesehen, dass die oben angegebenen Subsysteme – Schule, Universität, Lehrerseminare, Fortbildung – gleichsam in sich geschlossen mit unterschiedlichen regulierenden Wertsystemen operieren. Lange Publikationslisten z.B. und die umfangreichen Darstellungen von Forschungsergebnissen folgen Steuerungsmechanismen, die in der Universität vielleicht funktional und sinnvoll sein mögen, dem praktizierenden Lehrer in der Schule mit seiner ständigen Zeitnot ist die in der Folge Marktgesetzen unterliegende Publikationsflut eher ein kontraproduktives Greuel. Die Logik der Wissensproduktion in dem einen Subsystem der Wissenschaft entspricht (vielleicht unabdingbar) nicht dem Rezeptionsbedarf in einem anderen Referenzsystem wie dem einer Schule.

Fragmentierung der erzeugten Struktur mit einem »Betriebssystem«, das schlecht konzipiert ist – von Christan Görlich

Fragmentierung der erzeugten Struktur – mit einem »Betriebssystem«, das schlecht konzipiert ist – von Christan Görlich

Entsprechendes gilt übrigens auch für die bürokratische und beschleunigte Regelungsgenerierung in der staatlichen Bildungsverwaltung. Abhängig von einer meines Erachtens einseitigen (sich empirischen gebenden) Politikberatung werden »kreative Gestaltungen« oder ähnliches verordnungsmäßig über Kaskaden nach unten lediglich durch gereicht statt wirklich kommuniziert.
Schlichter formuliert möchte ich von Kommunikationsstörungen zwischen den Subsystemen, mit Blick auf eine verordnende Bildungspolitik in Verbindung mit einer einseitigen Politikberatung von Kommunikationsverweigerung sprechen.
Auch die Versuche, diese Fragmentierung gleichsam von unten aufzubrechen, müssen nach meinen Erfahrungen als gescheitert angesehen werden. So konnte zum Beispiel im Vorfeld der Reorganisation des Universitätsstudiums nach Bachelor- und Masterstudiengängen fast von einem Frühling einer neuen Kooperation zwischen Universität und Seminaren gesprochen werden, der so manche Hoffnungen weckte. Sogar die Spitzen der Hierarchien wie Universitätsrektoren bemühten sich, im gemeinsamen Gespräch mit den Seminaren zukünftige Kooperationsmöglichkeiten zu erkunden. Doch kaum waren in der Folge die entsprechenden Verordnungen für die Universitäten in der Landeshauptstadt beschlossen, war es mit diesen Gesprächen vorbei.

B. Bildungsgangdidaktik – als »Defragmentierungsprogramm«?

Metaphorisch gesprochen hat es neben dem oben gegebenen Beispiel natürlich noch weitere vielfältige Versuche gegeben, durch »Defragmentierungsprogramme« innere Widersprüche aufzuheben und die Ausbildung durch einen gemeinsamen konzeptionellen Rahmen, durch eine gemeinsame Moral oder ein gemeinsames Kollektivbewusstsein im Sinne Durkheims zu befördern. Ich möchte in idealtypischer Absicht nur drei bekannter gewordene »Defragmentierungsprogramme« benennen und in aller Kürze skizzieren:

(1) Modell des Forschenden Lehrens und Lernens – mit der Utopie einer Gelehrtenrepublik im Hintergrund – ist in der Literatur wiederholt dokumentiert und propagiert worden (vgl. z.B. Alexandra Obolenski/Hilbert Meyer (Hrsg.): Forschendes Lernen. Theorie und Praxis einer professionellen LehrerInnenausbildung.- Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2003). Trotz all meiner Sympathien für dieses Modell im Theoretischen, konnte ich in der Praxis nur bescheidene Fortschritte verzeichnen. Dies sei nur an zwei Beispielen knapp erläutert. Gerade die Staatsarbeiten in der ersten und zweiten Phase der Lehrerausbildung würden sich für einen forschenden Ansatz sehr eignen. Für die erste Phase haben kluge Hochschullehrer auch diese Potenziale zu nutzen verstanden. In der zweiten Phase waren die Arbeiten ursprünglich für die Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht als dem Kerngeschäft des Lehrers angelegt. Durch die Umstellung der Ausbildungsverordnungen auf einen recht unklaren Konzeptbegriff – bei einer durchaus diskutablen Beschränkung des Umfangs auf circa 30 Seiten – wurde faktisch eine (thematische) Fragmentierung weiter befördert. So konnte man dann Staatsarbeiten zu Bauchtanzkursen an sauerländischen Schulen oder zu Kollegiumssportveranstaltungen an Schulen des Niederrheins finden, die nicht mehr wirklich dem oben angegebenen Ideal eines forschenden Lehrens und Lernens entsprachen. Zukünftig sollen in der Zweiten Phase der Lehrerausbildung keine Staatsarbeiten geschrieben werden. Eine ähnliche Abkoppelung von dem Modell des Forschenden Lehrens und Lernens habe ich auch im Verlaufe meiner Dienstzeit im Philosophieunterricht erfahren. Man vergleiche nur die Philosophieschulbücher aus den sechziger Jahren – etwa die Diskursbände von Dölle/Oelmüller – mit den heutigen Schulbüchern unter dem Aspekt der Textlänge und des Layouts. Während die früheren umfangreichen philosophischen Textauszüge Lehrern und Schülern ein wissenschaftpropädeutisches Lehren und Lernen ermöglichten und so ein gewisses Niveau und die Anschlussfähigkeit an gegenwärtige philosophische Diskurse garantierten, scheinen die gegenwärtigen Schulbücher mit ihren peinlich knappen Textauszügen und zum Teil albernen, windows-geprägten Präsentationen dem Zeitgeist einer Mediengesellschaft zu hofieren, der andernorts heftig kritisiert wird. Diese – auch noch von der Kultusbürokratie genehmigten – Schulbüchern verführen zu einer Unterrichtplanung, die kaum über die jeweils nächsten Seiten hinausreicht.

(2) Die Kritik der Lehrerbildung hat natürlich auch seriöse Reformansätze in der Diskussion hervorgebracht, die sich an einer Optimierung der institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen orientieren. Beispielhaft möchte ich die »Reform der Lehrerbildung in Hamburg« zitieren – herausgegeben von Josef Keuffer und Jürgen Oelkers (Weinheim/Basel:Beltz 2001): »Die Lehrerbildung ist derzeit schwach, weil sie nirgendwo gemeinsame Interessen und Anliegen vertritt. Die Interessen sind zersplittert und gegensätzlich. Thematisch ist die Lehrerbildung abhängig von bildungspolitischen Konjunkturen, die sich mit ganz unterschiedlichen Profiten und Verlusten für die einzelnen Einheiten der Lehrerbildung verbinden« (a.a.O. S. 79). Die Gegensteuerung soll über Zielentscheide, gemeinsame Profile, Kerncurricula für die Teilbereiche mit fortlaufender Abstimmung, über gemeinsame Konfliktbearbeitung und Bewertungen und Darstellung eines Gesamtinteresses – i. S. von Kollektivbewusstsein – erfolgen. Es dürfte eine Nachfrage an Keuffer und Oelkers wert sein, inwiefern sie ihre programmatischen Vorstellungen für Hamburg von 2001 heute im Jahre 2010 realisiert sehen.

In einem bei Computerprogrammen üblichen Bewertungssystem dürften diese beiden »Defragmentierungsansätze« in der Lehrerbildung jedoch noch nicht die volle Sternchenzahl erreichen.

(3a) Die herkömmliche Behandlung von Didaktiken in der Lehrerbildung
Angesichts der fast babylonischen Situation in der Lehrerausbildung hat man den Weg zu einer neuen Verständigung, zu einem »Kollektivbewusstsein«, auch in einem gemeinsamen didaktischen Denken gesucht. Doch auch hier zeigt sich die Wirklichkeit sperrig.
Bei dem Versuch von Ludger Humbert, die Fachdidaktik der Informatik mit der Bildungsgangdidaktik von Meinert Meyer als allgemeiner Didaktik in ein Gespräch zu bringen, entstanden Diskussionen, die zu zunächst verblüffenden und provozierenden Fragen führten, etwa: »Brauchen wir überhaupt eine Allgemeine Didaktik?«
Wie kann es heute nach so elaboriertenen Diskussionen über das Verhältnis von Fachdidaktik und allgemeiner Didaktik (Meinert Meyer und Wilfried Plöger, 1994: Allgemeine Didaktik, Fachdidaktik und Fachunterricht, Beltz) überhaupt noch zu einer solchen grundsätzlichen Infragestellung kommen? Ist hier vielleicht noch eine gewisse Bringschuld für die Allgemeine Didaktik zu vermuten, sich bestimmten Fragestellungen noch konsequenter zu stellen, eventuell sogar das eigene Konzept zu radikalisieren?
Zur Erwiderung der immerhin von einer Doktorandin aufgeworfenen Frage nach der Notwendigkeit einer allgemeinen Didaktik seien nur einige weniger Aspekte benannt – und zwar aus einer Sichtweise, wie ich sie während meiner Praxis in der Lehrerausbildung immer vertreten habe:
Beobachter und Handelnde erfahren die Wahrnehmung der Lehrerrolle im oben bereits angedeuteten Sinne als hochkomplex, den Menschen (als biologisches Wesen) schlicht überfordernde Erwartung, der sie nicht ohne eine institutionelle Stützung bzw. Kompensation entsprechen können. Diese Beschreibung sieht sich ganz in der Tradition des anthropologischen Ansatzes von Arnold Gehlen. Konkret: Wie kann ich die zum Teil widersprüchlichen Rollenanforderungen des Unterrichtens, Erziehens etc. in einem zunehmend schwieriger werdenden sozialen Umfeld erfüllen und dabei auch noch meine Authentizität wahren und meinen persönlichen Stil als Lehrer entwickeln?

Allgemeine Didaktik als Wissenschaft vom Unterricht möchte ich hier als einen Erfolg verheißenden Ansatz verstanden wissen, eine solche Stützung anzubieten, insofern sie diese nun einmal gegebene Komplexität reflektiert, kontrolliert reduziert und so unterrichtliches Handeln wissenschaftlich, d.h. in einem bestimmten Sinne »rational«, planbar und kontrollierbar macht, ohne über diese Reduktion das Ganze des Bildungsauftrags und des institutionellen Rahmens zu vergessen. Das Attribut »rational« bezieht sich im hier gemeinten Sinne auf eine wissenschaftliche Rationalität, wie sie sich in den letzten Jahrhunderten in der westlichen Welt als üblich herausgebildet hat und unter einer globalen Perspektive unserer Gesellschaft gleichsam als charakteristisch zugeordnet wird. Eine solche Relativierung will daran erinnern, dass es auch noch andere, zumindest funktional potentiell gleichwertige Mechanismen der Komplexitätsreduzierung gibt: etwa Alltagswissen, Philosophien, Religionen, Mythen, Metaphern, Riten etc.. Gilt es doch, einer bedenklichen Tendenz zu einer eindimensionalen Wissenschaftsgläubigkeit vorbeugen. Immer geht es nicht nur um empirisch nachweisbare Machbarkeit von Teiloperationen, sondern auch um den Sinn des Ganzen.

Der Hinweis auf das »Ganze« des Bildungsauftrags entspricht der didaktischen Tradition (vgl. Wolfgang Klafki in Meyer/Plöger 1994). Er mahnt an, die rationalen Detailanalysen wieder mit dem Ganzen unserer Existenz, unserer Lebenswelt, in Beziehung zu setzen.

Die Kriterien der Reduktion sind natürlich vom Standpunkt des jeweiligen Beobachters abhängig. Wohl wissend um die Bedeutung der Kategorie des Beobachters im gegenwärtigen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Diskussionen sehe ich jedoch hier unter dem Einfluss von Biologie und konstruktivistischer Kognitionswissenschaft eine bedenkliche Verengung des Problems auf den Beobachter als Einzelnen. Jeder Beobachter agiert jedoch nicht nur als biologische Einheit oder in sich geschlossenes kognitives System, sondern zugleich im Rahmen unterscheidbarer Subsysteme mit jeweils spezifischen Zielsetzungen, Kommunikationsformen und Sinnkonstruktionen. Schule, Universität, Seminare in der Zweiten Phase, Fortbildung »ticken« jeweils anders. Die Erkenntnisinteressen, Handlungsintentionen oder Sinnkonstruktionen von Schülern/Lehrer, von Studenten/Hochschullehrern und Fortzubildenden variieren. Hier werden kritische Leser handfeste Beispiele einfordern. Ich meine ganz einfach, dass – während ein Forscher möglicherweise über eine »gute Schule« nachdenkt – ein konkreter Lehrer in der Klasse kaum zu solch einer Reflexion kommt, da die Zwänge der Realität ihn nur an das »Überleben« denken lassen. Je nach Positionierung dürfte also auch der Stellenwert einer Didaktik – der Allgemeinen Didaktik – in den verschiedenen Phasen variieren. Das Spektrum der Wertigkeiten dürfte je nach individueller Befindlichkeit von »überflüssig« bis »unabdingbar« reichen, wobei man allerdings bei der Beschreibung noch zwischen einer manifesten und latenten Ebene unterscheiden müsste.
Hinzukommt, dass sich der ja grundsätzlich offene und willige Lehrer einer scheinbar beliebigen Pluralität von Didaktikangeboten gegenübersieht, die sich jedoch in einer historischen und wissenschaftstheoretischen Rekonstruktion beziehungsweise Reflexion als gar nicht so beliebig darstellen.
Die Geschichte der didaktischen Theorien oder besser die Geschichte des didaktischen Denkens lässt sich als reaktiv begreifen, insofern sich in dieser Geschichte die jeweiligen Veränderungen von Jugend und Gesellschaft, die sich daraus ergebende Kritik an Unterricht und die jeweils neuen Leitbilder von Schule spiegeln. In Korrespondenz sind die jeweils entsprechend variierenden erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundkonzeptionen mitzudenken. (vgl. Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart.- Berlin : de Gruyter, 1965. Nachdruck der 3. erweiterten Auflage von 1921; Eckard König/Peter Zedler: Theorien der Erziehungswissenschaft. Einführung in Grundlagen, Methoden und praktische Konsequenzen.- Weinheim: Beltz 1998). Als Beispiel möchte ich darauf verweisen, dass es nicht nur einen theoretischen Unterschied macht, ob ich Erziehungswissenschaften mit einem systemtheoretischen oder einem durch die Frankfurter Schule geprägten Ansatz betreibe. Als Problem habe ich in der Lehrerausbildung erfahren, dass diese didaktischen Ansätze zwar als Ausbildungsinhalte neben anderem behandelt wurden, aber höchstens ansatzweise für die Ausbildung als Ganzes konstitutiv waren. Dies änderte sich für mich in der Auseinandersetzung mit der Bildungsgangdidaktik.

(3b) Bildungsgangdidaktik reconsidered – ein gemeinsamer konzeptioneller Rahmen für die Lehrerausbildung?
Der Bildungsgangdidaktik kommt in der skizzierten scheinbaren Pluralität der Didaktiken meines Erachtens eine besondere Rolle zu. Der Kern der Bildungsgangdidaktik ist für mich, dass sie sich am sich bildenden Menschen – in seinem Werden – orientiert, einen Menschen, der in der Vermittlung von biografisch Gewordenen und auf der Tagesordnung stehenden Anforderungen über Entwicklungsaufgaben sein Leben zu gestalten sucht. Bildungsgangdidaktik stellt den Wandel und Generationenwechsel als solches selbst ins Zentrum ihrer Reflexion.
Dabei wäre zu überlegen, inwieweit die ontogenetische Perspektive durch eine phylogenetische ergänzt werden könnte. Habermas und Eder haben es meines Erachtens plausibel vorgemacht, wie man die Beschreibung der individuellen moralischen Entwicklung in Anlehnung an Kohlberg zu einer Beschreibung der gesellschaftlichen moralischen Entwicklung ausweiten könnte.
Die Bildungsgangdidaktik bietet meines Erachtens mit ihren begrifflichen Instrumentarien die Chance, dem oben bezeichneten Auseinanderdriften der Subsysteme von Schule, Universität und Fortbildung entgegenzuwirken und den phasenübergreifenden kategorialen Rahmen für die eine gemeinsame Aufgabe von Erziehung und Bildung bereitzustellen.

Dazu wird es nötig sein, nicht nur von der Bildungsgangdidaktik als solcher zu sprechen, sondern eine »Perspektivierung« der Inhalte und Verfahren vorzunehmen, differenziert und spezifisch nach der Interessenlage der jeweiligen Beobachter in den verschiedenen Subsystemen, die sich ihrerseits wiederum weiter untergliedern lassen.
Zur Verdeutlichung möchte ich an einem Beispiel eines Buchprojektes von Thomas Metzinger darlegen, in welche Richtung die Überlegungen laufen müssten. Thomas Metzinger hat für einen Grundkurs »Philosophie des Geistes« drei Bände vorgelegt (Paderborn: mentis 2009f), in dem die Studienmaterialien differenziert nach Bachelor- und Masterstudiengang und Promotionsinteressenten vorliegen werden. Ich möchte jetzt nicht die unterschiedlichen Niveaus der Anforderungen weiter beschreiben, geschweige denn beurteilen. Sicher wird man hier darüber streiten können, ob sich das Niveau des Masterstudienganges durch die Einbeziehung englischsprachlicher Literatur definiert. Inhaltlich bleibt hier sicher einiges zu klären. Aber das Buchprojekt gibt eine spezifische Fragestellung vor, der sich auch die Bildungsgangdidaktik auf Zeit wohl kaum entziehen kann. Im Anschluss an Uwe Hericks Ansätze zu einer Typologie der Entwicklungsaufgaben für angehende Lehrer nenne ich nur einige Fragen gleichsam als Vorarbeiten für eine noch zu entwickelnde Heuristik:

C. Auf dem Wege zu einer neuen Wissensordnung?

Bei aller Fragmentierung ist allen Teilen des Lehrerausbildungssystems eines gemeinsam, dass sie Wissen in Form von Theorien, Erfahrungen etc. erzeugen. Aber gerade hier scheinen sich nach den bedeutenden Epochenschwellen der Erfindung der Schrift und der Etablierung der Buchdruckkunst gegenwärtig fundamentale Veränderungen im Sinne einer neuen Wissensordnung anzubahnen. Dabei ist unter Wissensordnung nicht nur ein kognitives Sortiersystem zu verstehen, sondern eine Ordnung in dem Sinne, wie wir von Rechtsordnung oder Wirtschaftsordnung sprechen. Worin liegt das Neue und Brisante in unserer Situation? Eine Antwort kann mit Blick auf die hier gebotenen Kürze nur angedeutet werden. Wissenschaftliches Wissen erhält gegenwärtig eine größere Bedeutung als je zuvor (vgl. Peter Weingart, Martin Carrier, Wolfgang Krohn: Nachrichten aus der Wissensgesellschaft. Analysen zur Veränderung der Wissenschaft.- Weilerswist: Velbück 2007). » Wenn immer sich ein Problem stellt – ist Fasten ungesund? Macht zu viel Fernsehen dumm? Vererbt sich schlechter Charakter? - verlassen wir uns bei dessen Lösung nicht mehr auf das Alltagswissen. Vielmehr werden Experten zurate gezogen, und wenn diese auch nichts wissen, wird ein Forschungsprojekt aufgelegt. Mehr noch: eine Vielzahl von Problemen, mit denen sich die Menschen in modernen Gesellschaften beschäftigen – die Veränderung des Klimas, der Abbau der Ozonschicht, die Strahlenbelastung durch Mobiltelefone und Hochspannungsleitungen, die Übertragbarkeit der Vogelgrippe auf den Menschen – sind erst durch die Wissenschaft aufgedeckt worden (Weingart u.a. a.a.O. S. 7). Die gegenwärtige Gesellschaft wird also dadurch charakterisiert, dass das Alltagswissen, auf dass sich die Menschen bisher verlassen haben, zunehmend durch wissenschaftliches Wissen ersetzt wird. Es dürfte nicht schwer fallen, dass oben angegebene Zitat auf die Erziehungswissenschaften und Fragen der Schule zuzuspitzen.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Praxis des Lehrerberufs und das Ausbildungssystem?
Bildhafte Vergleiche unterliegen immer der Gefahr, überdehnt zu werden. Gleichwohl sei abschließend ein Blick darauf gerichtet, was die Zunft zum Thema Fragmentierung bzw. Defragmentierung zu sagen hat. In Wikipedia können wir nachlesen, dass Fragmentierung die verstreute Speicherung von logisch zusammengehörigen Datenblöcken des Dateisystems auf einem Datenträger meint – mit der Folge relativ hoher Zugriffszeiten und einer spürbaren Verlangsamung der Lese- und Schreibvorgänge. Defragmentierung kann demgegenüber den sequentiellen Zugriff mitunter deutlich – also nicht immer – beschleunigen und damit die Arbeitsgeschwindigkeit des gesamten Systems erhöhen. Die Autoren der Wikipedia weisen daraufhin, dass es erhebliche Unterschiede bei der Datenspeicherung und dabei im Ausmaß der Fragmentierung gibt, je nachdem ob Linux, Mac OS X oder Window als Betriebssystem eingesetzt werden (vgl. is.gd/9SUXV – aber auch die Diskussion um den Artikel). So werden wir auch in der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit immer mit gewissen Fragmentierungen rechnen müssen; aber wir haben es in der Hand, durch eine entsprechende Wahl des Systems die kontraproduktiven Kosten zu minimalisieren. Jedoch sind Zweifel angebracht. Wie sollte es einer Landesregierung gelingen, das hoch komplexe System der Lehrerbildung auf ein fragmentierungsresistenteres System umzustellen, wenn es ihr noch nicht einmal gelingt, die für Regierung und Verwaltung unabdingbaren Systeme auf Open Source umzustellen?

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