If Fase Logo

mit Google im Archiv der If Fase

Ausgabe 23 vom 1. Dezember 2007 (als PDF):

30. November 2007 – Christian F. Görlich

Mut zu systemischem Denken – eine Einführung in eine Einführung von Fritz B. Simon

 

Das Kreuz mit den Einführungen

Eine Standardsituation, die Sie kennen werden: Sie lesen aus privaten oder auch professionellem Interesse einen Text oder verfolgen ein Gespräch, in dem von einem bestimmten Thema die Rede ist – sagen wir: von Systemtheorie(n) und Konstruktivismus. Die Autoren oder die Gesprächsteilnehmer jonglieren prestigeträchtig mit Begriffen wie »Kybernetik erster und weiterer Ordnungen«, »Autopoiesis«, »Emergenz«, »Strukturdeterminiertheit«, »Perturbation« oder »operationale Schließung«. Sie erahnen, dass die hier thematisierten Theorien auch Ihre eigenen Denkansätze bereichern könnten. Aber Sie haben das Ganze noch nicht so richtig verstanden. Es bleibt Gerede, und Sie möchten es genauer wissen. Also werden Sie sich als Leser oder Zuhörer – ich nehme einmal an, dass Sie sich in der Lehrer[aus]bildung befinden – ein entsprechendes Buch kaufen oder leihen – nahe liegend wäre hier etwa der Titel »Reflexionsprobleme im Erziehungssystem« von Niklas Luhmann und Karl-Eberhard Schorr [1. Auflage 1979]. Doch auch bei diesem relativ frühen Werk von Luhmann dürften nicht Wenige auf Verständnisgrenzen stoßen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt werden Sie sich vielleicht sagen: Wenn ich jetzt erst einmal eine gute Einführung lese, dann werde ich auch den Primärtext verstehen. Doch leider werden Sie wahrscheinlich erfahren müssen, dass auch eine gute Einführung nur ein weiterer Meilenstein auf dem steilen Pfad einer sich weiter windenden hermeneutischen Spirale ist.

Diese Vorbemerkung verfolgt zwei Ziele:

Zum einen wollen die Ausführungen empfehlend auf Simons Einführung in die Systemtheorie und den Konstruktivismus hinweisen, sie wollen aber auch vor übertriebenen Erwartungen warnen.

Zum anderen wollte die oben bewusst gewählte Formulierung eines gradlinigen Kausalzusammenhanges »Wenn ich dieses oder jenes tue, dann werden sich entsprechende Folgen einstellen« auf eine häufig unbewusste und typische – nämlich Verhältnisse verkürzende – Darstellungsweise hinweisen – auf eine mentale Falle mit möglicherweise praktisch fatalen Folgen, gegen die sowohl Systemtheorie als Konstruktivismus einen systemischen Ansatz hilfreich ins Spiel zu bringen versprechen.

Denkanstöße für die eigene Praxis

Das eigentliche Erkenntnisinteresse an Systemtheorie und Konstruktivismus Simons läßt sich auf die Formel der Zwischenüberschrift Denkanstöße für die eigene Praxis bringen.

Gegen eine Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus könnte angesichts unterschiedlicher Theoriewurzeln und der jeweils spezifischen Logik bei allen Berührungen und Überschneidungen aus wissenschaftshistorischer oder auch systematischer Perspektive Bedenken erhoben werden. Sie dürften aber wohl in den Hintergrund treten, wenn man die Erkenntnisinteressen von Simon als legitim akzeptiert.

Als systemischer Therapeut ist Simon ohne Scheu vor Rezepten vorrangig daran interessiert, aus theoretischen Konzepten wie Systemtheorie und Konstruktivismus »Modelle zu schnitzen, die zur Komplexitätsreduktion innerhalb des tatsächlichen Lebens hilfreich sind« (a.a.O. S. 112) Dabei kann der hohe Abstraktheitsgard der systemtheoretischen Ansätze, der für viele ein Stein des Anstosses ist, gerade als ein Vorteil gesehen werden: gerade in ihrer Abstraktheit können solche wissenschaftlichen Konzeptionen auf ganz unterschiedliche Inhalte und Phänomenbereiche – so auch auf den Bereich der Pädagogik – angewandt werden.

Die Sinnhaftigkeit eines Rückgriffs auf solche abstrakte Theorien wie Systemtheorie und Konstruktivismus versucht Simon über Beispiele aus seiner Praxiserfahrung zu plausibilisieren. Ausgehend von den drei Ebenen der Wirklichkeitsrekonstruktion (Beschreiben, Erklären und Bewerten von Phänomenen) erzählt Simon:

Ein 21-jähriger Sohn hatte während des familiären Frühstücks eine volle Tasse Kaffee an die Wand geworfen. Für den Vater ist es – hier sehr verkürzend erzählt – ein Zeichen für die Bosheit des Sohnes, für die Mutter [natürlich] das Symptom einer Krankheit und für die Großmutter ein Indiz für Besessenheit. »Alle drei Erklärungen haben gemeinsam, dass sie in einem ihrer Beobachtung nicht direkt zugänglichen Bereich einen <generierenden Mechanismus> für das beobachtete und zu erklärende Phänomen konstruieren. [...] Pragmatisch entscheidend ist, dass sich aus allen drei Erklärungsansätzen unterschiedliche Bewertungen des Verhaltens und unterschiedliche Interventions- und Behandlungsstrategien ergeben« (Simon a.a.O. S. 74). Dieses Beispiel verdeutlicht nicht nur die Nützlichkeit, ja wohl auch die Notwendigkeit, zwischen den unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen zu unterscheiden.

[Simon 2007] Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus

Fritz B. Simon : Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, 2. Auflage 2007, 120 Seiten, ISBN-10 3-89670-547-4

Aus der Seminararbeit weiß ich, dass es Referendaren gewöhnlich nicht schwer fällt, die Struktur des Beispiels vor Augen entsprechende Beispiele aus Schule und Unterricht einzubringen.

Jedoch verweist Simon hier in einem zweiten Anlauf auf eine noch tiefer liegende Problematik:

»Fragt man einen theoretisch unbelasteten Menschen, woraus seiner Meinung nach soziale Systeme bestehen, so erhält man in der Regel die Antwort: aus Menschen. Diese Definition ist nahe liegend, entspricht der Intuition und dem alltäglichen Erleben« [S.85] Danach ergeben sich aus Einzelnen Gruppen, die über weitere Verbindungen bis zur Weltgesellschaft und Menschheit fort gedacht werden können. Das Konstruktionsprinzip oder die innere Logik ist eine hierarchische und auch nur erfundene Ordnung – ein Modell, dass aber die Komplexität der zu analysierenden Sachverhalte aus der Sicht von Systemtheorie und Konstruktivismus nicht genügend reduzieren kann, um sie handhabbar zu machen.

Selbst wenn der oben geschilderte Tassenwurf über einen Videoaufzeichnung mit weiteren Details zur familialen Interaktion und Kommunikation dokumentiert sein sollte, ist damit noch keine Erklärung für den Vorfall gefunden, vielmehr entsteht durch das In-den-Blick-Nehmen weiterer Personen, die als <nicht-triviale Maschinen> selbst wieder komplexe Systeme darstellen, eine nicht mehr zu bewältigende Hyperkomplexität. »Wenn soziale Systeme als <aus einer Anzahl ganzer Menschen bestehend> konzeptionalisiert werden, handelt man sich eine Komplexität ein, die jede Modellbildung überfordert«(a.a.O. S. 86).

Das hier geforderte Umdenken, nicht mehr Individuen oder Menschen als basale Einheit eines sozialen Systems zu sehen, sondern Kommunikationen, dürfte wohl zu den größten Barrieren gehören, denen sich ein abendländischen Sehgewohnheiten befangener Mensch gegenüber sieht.

Aber schließlich werden deshalb wohl Einleitungen zur Systemtheorie geschrieben!

Systemtheorie und Konstruktivismus auf dem Wege zur Praxis

An den Schluss seines Büchleins hat Fritz B. Simon die zehn Gebote des systemischen Denkens gestellt, um den Transfer der theoretischen Konzeptionalisierungen in weitere Praxisfelder anzuregen. Ich möchte Simons Anspielung auf den Mythos der zehn Gebote in seiner Apodiktik nicht folgen und lieber für Denk-Anmutungen werben. Denn die Beschäftigung mit den <zehn Geboten> verspricht für ein pädagogischen Denken – auch im Bereich der Lehrerbildung - fruchtbar sein. Die folgenden Annotierungen zu einigen Anmutungen sind dabei mit Blick auf die drängenden Tagesgeschäfte notwendigerweise selektiv, bei anderen Anmutungen wird es hier bei ausgewählten Zitaten von Simon bleiben müssen.

»I. Mache Dir stets bewusst, dass alles, was gesagt wird, von einem Beobachter gesagt wird!«

Als Lehrer bin ich zunächst einmal der Beobachter meiner Schüler - mit spezifischen Wahrnehmungsfähigkeiten (auch Scheuklappen, blinden Flecken, Interessen, Vorerfahrungen usw.). Insofern macht es durchaus Sinn, auch in der Ausbildung Fachleiter als Beobachter des Beobachters zu etablieren. Jedoch wer beobachtet den Beobachter des Beobachters? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der sprachlichen Differenz: »Der Schüler ist fleißig« bzw. »Ich sehe den Schüler als fleißigen?

Die beiden ersten Anmutungen dürften heute bereits theoretisch allgemeine Akzeptanz finden, allerdings spiegelt diese Akzeptanz  zu oft noch nicht die Befindlichkeiten der Beobachteten.

»II. Unterscheide stets das, was über ein Phänomen gesagt wird, von dem Phänomen, über das es gesagt wird!«

Das Zeugnis ist nicht der Schüler, ebenso wie eine Landkarte nicht die Landschaft, die Speisekarte nicht die Speisen sind. »Die implizite Logik von Zeichensystemen [...und dazu gehören auch Beurteilungssysteme ...] ist in der Regel anders als die der abgebildeten oder bezeichneten Phänomene oder Gegenstände [...oder Menschen...]; wenn beides verwechselt wird, besteht die Gefahr, dass auf Eigenarten der Beobachtungsmethode und ihrer Ergebnisse bzw. des Beobachters statt des beobachteten Sachverhalts reagiert wird« (S. 113).

»III. Wenn Du Informationen (be)schaffen willst, triff Unterscheidungen!«

»Informationen entstehen durch das Ziehen von Grenzen, durch die ein Raum, Zustand oder Inhalt <innen> von einem Raum, Zustand oder Inhalt <außen> getrennt wird [System-Umwelt-Differenzierung]« (a.a.O.).

Simons Umgang mit dem Informationsbegriff bedarf sich noch weiter differenzierender Überlegungen. Hier soll lediglich das Ziehen von Grenzen mit Blick auf eine interessante Diskussion um das Erziehungssystem kurz angesprochen werden: Was ist eigentlich das Typische des Erziehungssystems – Luhmann spricht hier auch in Abweichung von der Alltagssprache von Medium -, das es als System von seiner Umwelt abgrenzt. In traditionellen Konstrukten war es das Kind: Erziehung definiert sich darüber, dass sie Kinder ins Erwachsenenalter zu führen sucht. Aber schon die leichtfertige Rede von der nötigen Erziehung der Erzieher entlarvt die Problematik eines solchen Ansatzes und hat in der Folge dazu geführt, den <Lebenslauf> als Medium des Erziehungssystems zu definieren (vgl. Dieter Lenzen und Niklas Luhmann: Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form.- Frankfurt/M: stw 1997).

Kritiker sehen eine solche Pädagogisierung der Gesellschaft dank der Übertreibung guter Absichten der Erziehung und dank der Eroberung auch der Erwachsenen als Klientel <lebenslangen Lernens> als zu weit getrieben an. Angesichts dieser geteilten Kritik hat in neuere Zeit Dirk Baecker den Begriff der Intelligenz als Medium der Erziehung in den Ring geworfen (Wozu Gesellschaft. – Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2007, S. 267ff). Die Diskussion dürfte spannend werden.

»IV. Trenne in Deiner inneren Buchhaltung die Beschreibung beobachteter Phänomene von ihrer Erklärung und Bewertung!«

Schüler werfen – wenn auch weniger mit Tassen – so doch auch öfters mit Taschen.

»V. Der Status quo bedarf immer der Erklärung!«

»Im Bereich lebender oder Leben voraussetzender Systeme (Organismen, psychische und soziale Systeme) entstehen Strukturen nur dann und bleiben nur dann unverändert, wenn sie aktiv hergestellt und erhalten werden (Autopoiese); wenn dem außen stehenden Beobachter über die Zeit hin Merkmale oder Eigenschaften lebender/psychischer/ sozialer Systeme konstant und dauerhaft erscheinen, so ist dies immer als Ergebnis eines dynamischen Prozesses zu erklären, der aktiv dafür sorgt, dass sich nichts verändert.«

»VI. Unterscheide Elemente, Systeme und Umwelten!«

Diese Unterscheidung sichert das Überleben, Überleben bedarf der Reduktion der Komplexität.

»VII. Betrachte soziale Systeme als Kommunikationssysteme, d.h. definiere ihre kleinsten Einheiten (Elemente) als Kommunikationen!«

An einer Kommunikation nehmen in der Regel mehrere Personen teil.»[...] was das System aufrechterhält, ist aber nicht die Kontinuität der Personen, sondern die Kontinuität der Kommunikation, d.h., wenn sie nicht fortgesetzt wird, endet das soziale System« (S. 115).

»VIII. Denke daran, dass die Überlebenseinheit immer ein System mit seinen relevanten Umwelten ist!«

Die Möglichkeit eines Systems ist immer eine Frage des Alles oder Nichts. »[...] zwischen Systemen und Umwelten (vor allem, wenn dies andere Systeme sind), kann es zu Konflikten kommen; wichtig ist, hier Lösungen zu finden, mit denen beide Seiten leben können, damit nichtbeabsichtigte, autodestruktive Langzeitwirkungen verhindert werden können« (a.a.O.)

»IX. Orientiere dein Handeln an repetitiven Mustern!«

»Konstanz in dynamischen Systemen (ob im Bereich des Biologischen, Psychischen oder Sozialen) ist immer durch die Wiederholung von Prozessmustern zu erklären, deren Organisationsform konstant ist; das gilt für Zustände, die als »problematisch« bewertet werden und verändert werden sollen, wie auch für angestrebte Ziele und »Lösungen«, die positiv bewertet und herbeigeführt werden sollen; alles, was nur einmal geschieht, ist nicht von Bedeutung; wo nicht für Wiederholung gesorgt ist, kann nicht mit Berechenbarkeit gerechnet werden« (a.a.O.)

»X. Betrachte Paradoxien und Ambivalenzen als normal und erwartbar!«

»Das Ideal der zweiwertigen Logik, wonach Aussagen entweder »wahr« oder »falsch« zu sein haben bzw. sind und etwas Drittes nicht möglich ist, ist ein typisches Landkartenphänomen, d.h. ein Merkmal des Zeichensystems, ein Artefakt, das durch den Beobachter produziert wird; die tatsächlich existierende Welt ist immer voller Widersprüche, Antagonismen, Unklarheiten, Vieldeutigkeiten und Oszillationen; daher ist Ambivalenz eigentlich die für jeden Beobachter angemessene Normalverfassung [...]« (S. 116)

Wie kann ich eine solche Einsicht in der Lehrerbildung vermitteln?

 

Die hier veröffentlichten Inhalte stellen keine Meinungsäußerungen der Studienseminare Hamm Arnsberg dar.
© Redaktion If Fase